
Ein Moment mit Arnulf Rainer – Galerie Ropac, 2021 Er stand neben mir, leise und wach, ein Mann mit weißem Haar, Stock in der Hand, und einem Blick, der mehr sah als das Sichtbare. Ich trug Weiß, er trug Geschichte. Hinter uns das Schild Biennale Venezia — ein Zeitfenster, das sich für einen Atemzug öffnete.
Ich sprach ihn an, nicht als Journalistin, sondern als Frau, die als junges Mädchen die ORF-Meldung über den Einbruch in sein Atelier hörte und sich fragte: War das Vandalismus oder eine Inszenierung?
Seine Antwort war ein Satz, der mir bis heute nachhallt:
„Besuchen Sie das Raimund Seminar – dann werden Sie Künstlerin.“ Ich verstand. Und er verstand, dass ich verstand.
Zwischen uns: kein Interview, kein Protokoll, sondern ein kurzer, intensiver Austausch, wie ein Pinselstrich über ein bereits bestehendes Bild.

Arnulf Rainer (1929–2025)
Ein österreichischer Künstler, der die Kunstgeschichte übermalte
Arnulf Rainer, geboren am 8. Dezember 1929 in Baden, ist am 18. Dezember 2025 im 96. Lebensjahr verstorben. Mit ihm verliert die Kunstwelt eine Stimme, die über Jahrzehnte hinweg Grenzen verschoben, Sehgewohnheiten irritiert und das Sehen selbst neu definiert hat. Sein Werk bleibt — unvergesslich, unerschöpflich, unverwechselbar.
Als Wegbereiter der informellen Malerei in Österreich entwickelte Rainer jenes Prinzip, das zu seinem Markenzeichen wurde: die Übermalung. Was als Befreiung vom Surrealismus begann, wuchs zu einem vielschichtigen Repertoire aus Überzeichnungen, gestischen Eingriffen, Hand- und Fingerarbeiten. Ikonisch wurden seine „Face Farces“ und „Body Poses“ — fotografische Selbstporträts, die er mit expressiven Malereigesten überzog, als würde er mit Farbe direkt in sein eigenes Antlitz eingreifen.
Rainer war nicht nur ein Meister der Form, sondern auch ein Denker. Seine Schriften öffnen Fenster in seine Arbeitsweise, seine Zweifel, seine geistige Beweglichkeit. Er inspirierte Generationen von Künstler:innen — nicht durch Gefälligkeit, sondern durch Radikalität.
Ein Künstlerleben voller Brüche und Neuanfänge
Zwischen 1940 und 1944 besuchte Rainer die Nationalpolitische Erziehungsanstalt Traiskirchen. Als er gezwungen wurde, „nach der Natur“ zu zeichnen, verließ er die Schule — und beschloss, Künstler zu werden.
1950 gründete er mit Fuchs, Lehmden, Brauer, Hollegha, Prachensky und Mikl die „Hundsgruppe“. 1951 reiste er mit Maria Lassnig nach Paris, wo er Pollock und Riopelle begegnete. Ihre Spuren sind in seinen frühen Arbeiten spürbar. Otto Breicha nannte ihn einmal einen „Möchtegernsurrealisten“ — ein Etikett, das Rainer mit seiner späteren Radikalität endgültig sprengte.
Ab 1953 begann er, fremde und eigene Werke zu übermalen — nicht als Zerstörung, sondern als Dialog. Ein Weiterdenken, ein Weiteratmen.
Die Atelier-Einbrüche – Legenden, die ihn begleiteten
Als ich ihn 2021 darauf ansprach, erinnerte ich mich. Mich beeindruckte eine ORF-Meldung aus den 1970er-Jahren als junge Kunstinteressierte. Die Meldung elektrisierte mich: Einbruch in sein Atelier, zerstörte und übermalte Werke, Spekulationen zwischen Vandalismus und Inszenierung.
Er lächelte nur. Und gab mir seinen berühmten Satz.
1994 folgte ein weiterer Angriff: 38 Bilder an der Akademie der bildenden Künste wurden großflächig mit schwarzer Farbe überzogen, nur die Signaturen blieben sichtbar. Erst 2019 wurde der Täter — ein ehemaliger Student — identifiziert. Ein spätes Ende einer langen Legende.
Auszeichnungen & Ehrungen
Rainers Bedeutung spiegelt sich in einer beeindruckenden Reihe internationaler Anerkennungen:
- 1981 Professur an der Akademie der bildenden Künste Wien (bis 1995)
- Mitglied der Akademie der Künste Berlin
- 1989 Retrospektive im Guggenheim Museum New York — die erste für einen lebenden europäischen Künstler
- 2003 Rhenus-Kunstpreis
- 2004/2006 Ehrendoktorate Münster und Linz
- 2006 Aragón-Goya-Preis
- 2015 österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse
- 2019 Großes Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich
- 2025 Großes Goldenes Ehrenzeichen für sein Lebenswerk
Ein Museum für einen Unruhigen
2009 eröffnete in Baden das Arnulf-Rainer-Museum — ein architektonisches Juwel, das seinem Werk gewidmet ist. Ein Ort, der seine Übermalungen nicht als Zerstörung, sondern als Verwandlung zeigt.

Zitat aus „Hirndrang“
„Ich betrachte Kunst als etwas, das den Menschen erweitern soll. Wenn sich der Mensch nicht müht, ist er ein reduziertes Wesen. Kunst ist für mich eine Hilfe für den Menschen und eine Form, sich zu entfalten.“
Epilog – Rainers Vermächtnis heute
Arnulf Rainer hat die Kunst nicht verschönert. Er hat sie geöffnet. Er hat sie befragt. Er hat sie übermalt, um sichtbar zu machen, was darunter liegt — und was darüber hinausgeht.
Sein Werk bleibt ein lebendiger Widerstand gegen das Glatte, das Gefällige, das Fertige. Es fordert uns heraus, weiterzusehen, weiterzudenken, weiterzugehen.
Für mich bleibt er ein Künstler, der mir in einem einzigen Satz eine Tür geöffnet hat.
„In Erinnerung an Arnulf Rainer.“
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