Eine persönliche Annäherung an die Künstlerin zwischen Performance, Präsenz und Poesie.
Ich erinnere mich noch gut an das erste Mal, als ich Marina Abramović sah – nicht persönlich, sondern in einem Video aus dem Museum of Modern Art in New York. Dort saß sie stundenlang regungslos an einem Tisch, gegenüber wechselten die Besucher. Kein Wort, kein Lächeln, nur Blickkontakt. The Artist Is Present hieß diese Performance. Ich verstand damals nicht genau, was sie bezwecken wollte – und doch hat mich die Szene tief berührt. Es war, als würde die Zeit stillstehen – und gleichzeitig alles sagen.
Nun kommt Marina Abramović nach Wien. Marina Abramović ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Künstlerinnen. Sie gilt als Begründerin der modernen Performance und hat mit ihren legendären Auftritten Kunstgeschichte geschrieben.
Die Albertina Modern zeigt ab dem 10. Oktober 2025 die erste große Retrospektive der Künstlerin in Österreich. Über fünfzig Jahre ihres Schaffens werden sichtbar – von frühen Arbeiten in Belgrad bis zu ikonischen Performances wie Imponderabilia, bei der Besucher sich zwischen zwei nackten Körpern hindurchzwängen mussten.
Abramović gilt als Pionierin der Performancekunst. Sie nutzt ihren Körper als Medium, als Werkzeug, als Bühne. Ihre Werke sind radikal, verletzlich, oft unbequem – und gerade deshalb so kraftvoll. Die Ausstellung in der Albertina Modern ist nicht nur eine Hommage an ihre Kunst, sondern auch eine Einladung zur Selbstbegegnung. Denn wer sich auf Abramović einlässt, erfährt nicht nur etwas über sie – sondern auch über sich selbst.
Ein Foto in der Ausstellung hat mich besonders beschäftigt: Eine Frau auf einem weißen Pferd, in der Hand eine weiße Fahne. Das Pferd ist ein Hengst. Will sie damit sagen: Du bist zwar ein Hengst, aber ich gebe die Kommandos – und mit der weißen Fahne rufe ich zum Frieden auf? Oder anders: Die Frau ist stark genug, um mit der Geschlechterrolle Mann–Frau umzugehen – und sie hießt die Fahne, um Frieden walten zu lassen? Interpretationen gäbe es viele. Landschaft, Pferd, Frau, Fahne – ein symbolisches Zusammenspiel. Betrachtet man das Bild genauer, fällt auf: Der Blick des Pferdes und der Frau geht in dieselbe Richtung. Was sehen sie? Was spielt sich dort ab? Ist es ein Befehl? Eine Reaktion auf etwas Unerwartetes?

Eine weitere Arbeit regt ebenfalls zum Nachdenken an: Eine Skulptur zeigt Beine – ob männlich oder weiblich, lässt sich nicht erkennen. Die Beine ragen nach oben, der Korpus steht auf einem Podest. Darunter steht eine Frau – vielleicht Abramović selbst? Sie steht kerzengerade, die Augen geschlossen. Träumt sie? Denkt sie nach? Oder befindet sie sich in Trance, will sich wegbeamen? Dieses Rätsel bleibt offen – hier wäre ein Gespräch mit der Künstlerin selbst angebracht.

Inner Sky, 1991/2015
ca. 200 x 220 x 85 cm, Eisen, Amethystgeode
Courtesy of the Marina Abramović Archives
© Courtesy of the Marina Abramović Archives / Bildrecht, Wien 2025; Foto: Heini Schneebeli, 1994
Das dritte Foto erzählt ebenfalls eine Geschichte: Zu sehen sind Bäume, die so gewachsen sind, dass sie ein Bild ergeben – wie ein altes Indianerzelt aus Baumstämmen, eine Schutzwand. Davor liegt eine Frau im weißen Bademantel, träumt oder schläft. Die Natur scheint über sie zu wachen, als wolle sie sagen: Du bist hier sicher.

Sleeping Under the Banyan Tree, 2010
Performance für Video, 56 Minuten 43 Sekunden
Courtesy of the Marina Abramović Archives, and Sean Kelly Gallery, New York
© Courtesy of the Marina Abramović Archives / Bildrecht, Wien 2025
Abramovićs Werke zu betrachten ist faszinierend – doch ihren wahren Sinn zu entschlüsseln, bleibt eine Herausforderung. Es gibt so viele Möglichkeiten. Und während ich darüber nachdenke, fällt mir noch eine ihrer Arbeiten ein: In Salzburg, auf der Staatsbrücke, steht ihre Installation Spirit of Mozart. Ein überdimensionierter, 15 Meter hoher Sitz ohne Sitzfläche erhebt sich am nördlichen Brückenkopf, umgeben von acht Edelstahlstühlen. Besucher können Platz nehmen und sich in Stille versenken. Die Arbeit will das Unsichtbare – den Geist Mozarts – sichtbar machen und der Hektik des Alltags einen Ort der inneren Einkehr entgegensetzen.
Vielleicht ist es genau das, was Marina Abramović uns zeigt: dass Stille manchmal mehr sagt als jedes Wort.
MARINA ABRAMOVIĆ | 10.10.2025 – 1.3.2026 Die ALBERTINA MODERN zeigt in Kooperation mit dem Bank Austria Kunstforum Wien die erste große Retrospektive von Marina Abramović in Österreich. Mehr zur Ausstellung auf der Website der Albertina https://www.albertina.at/albertina-modern/ausstellungen/marina-abramovic/
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