Das Ars Electronica Festival 2023          stellte sich der spannendsten Frage des 21. Jahrhunderts!

„WHO OWNS THE TRUTH“? „WEM GEHÖRT DIE WAHRHEIT”?

Video (c) Ars Electronica 2023

Ars Electronica 2023, immer einen Schritt voraus, zielte heuer direkt auf das umstrittene Schlüsselthema unserer Zeit und fragte: Wem gehört die Wahrheit? Es ging um die Frage nach Wahrheit und Eigentum, nach Deutungshoheit und Souveränität, kann man Wahrheit überhaupt besitzen?

Gibt es ein Recht auf Wahrheit, und wenn sie jemandem oder einer Institution gehört, welche Kontrolle und Verantwortung ist damit verbunden? Wie gehen wir mit solchen Fragen im Zeitalter der globalen Vernetzung und der sich rasant entwickelnden Fähigkeiten sogenannter künstlicher Intelligenz um?

In einer Zeit, in der sich einige wenige in neofeudalistischer Manier das kollektive Wissen angeeignet haben und in der wir auch gute Gründe haben, daran zu zweifeln, dass die Vision der Technologie unsere Probleme lösen wird, müssen wir uns fragen, wie wir unsere Zukunft gestalten können.

Die Europäische Union hat sich zum Ziel gesetzt, allen Menschen den Zugang zu den großen Errungenschaften von Wissenschaft und Technik zu erleichtern und sie in die Lage zu versetzen, diese Errungenschaften zu nutzen.

Das ist eine Herausforderung, die nur sehr schwer zu bewältigen sein wird. Aber genau für eine solche Vision soll und kann ein Festival wie die Ars Electronica stehen. Seit mehr als 40 Jahren ist dieses außergewöhnliche Festival ein Ort, an dem nicht nur darüber nachgedacht wird, wie Technik unsere Gesellschaft verändert, sondern auch, wie Kunst und Gesellschaft selbst Technik gestalten können.

Warum war ARS ELECTRONICA heuer so umfangreich?

Auch dieses Jahr wurde das Festival wieder als „Green Event“ umgesetzt und es nahmen 1542 Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Entwickler*innen, Designer*innen und Aktivist*innen aus 88 Ländern daran teil. 650 Exponate waren Teil der Ausstellung. 575 Veranstaltungen fanden statt. Ermöglicht haben das Festival 338 Partner*innen und Sponsoren sowie 434 Mitarbeiter*innen.

POSTCITY – die digitale Revolution

20 Kilometer Stromleitungen, 550 Verlängerungskabel à 10 Meter und 550 Verlängerungskabel à 5 Meter, 800 Steckdosenleisten, 400 Bildschirme, 75 Beamer, 75 Notebooks, 150 PCs und 100 Raspberry Pi, 60 Messewandmodule, 430 Tische und 2.100 Sessel, hunderte Pflanzen und – die Liste der Requisiten, die das Festivalteam für die POSTCITY vom 6. bis 10. September 2023 benötigte, ließe sich beliebig fortsetzen.

Worum geht es in diesem Jahr?

Es geht um Wahrheit, im Grunde geht es aber auch darum zu zeigen, wie KünstlerInnen aus aller Welt in Zusammenarbeit und Auseinandersetzung mit Technologie und Gesellschaft an diesem Thema arbeiten. PreisträgerInnen des Prix Ars Electronica, Projekte aus zahlreichen lokalen, europäischen und internationalen Kooperationen und Netzwerken, kuratierte Themenausstellungen und neue Auftragsarbeiten, Symposien und Workshops machten dies sichtbar.

Meine Erfahrungen und Erlebnisse bei der Ars Electronica sind hier kurz zusammengefasst.

Die Ars Electronica war wieder zu Gast in den stahlbetongrauen Hallen und Katakomben der POSTCITY – und darüber hinaus an 13 weiteren Orten in der Linzer Innenstadt. Mein Besuch beschränkte sich auf die POSTCITY, die KUNSTUNIVERSITÄT und das Lentos Kunstmuseum.

Dieses Jahr gab es so viele Veranstaltungen und Ausstellungen, dass man sich auf ein Minimum beschränken musste. Vor allem, wenn man nur einen Tag Zeit hatte. Ich habe für mich die interessantesten Projekte bzw. Ausstellungen ausgewählt.

Interessante Highlights für mich waren:

Jennifer Kanary (NL) Labyrinth Psychotica – The Anoiksis Experiment Roomforthoughts

,Labyrinth Psychotica – The Anoiksis Experiment by Roomforthoughts Jennifer Kanary (NL), Photo Jennifer Kanary

In ihrer Forschung zur Simulation von Psychosen durch Kunst und Technik sucht sie nach Mustern in den langen ignorierten subjektiven Daten der Betroffenen. Die Untersuchung ihrer Geschichten führte zu einer künstlerischen Forschungstheorie, der Anoiksis-Theorie. Sie ist radikal, weil sie unser Verständnis von Halluzinationen und Wahnvorstellungen in den Mittelpunkt stellt, um zu versuchen, sie zu heilen. Die Theorie geht davon aus, dass Krankheit nicht die Folge eines Defekts im Gehirn ist. Vielmehr versucht das Gehirn, einen Heilungsprozess in Gang zu setzen. Die Anoiksis-Map-Methode kann verwendet werden, um Raum für alle „psychiatrischen“ Zustände auf einem Spektrum von Subjektivität zu schaffen.

Die Anoiksis VR Psychosis Experience ist theoriegeleitet und methodenorientiert. Sie handelt. Es handelt sich um eine Mixed-Reality-VR-Psychose-Simulation, die den/die Träger*in in einen sicheren, interaktiven Wachtraumzustand in den Geist von Dr. Green versetzt, der sich in einer Psychose befindet, und über 42 subjektive Erfahrungen simuliert.

(Anoikis (griechisch: νοκις, „heimatlos“) bezeichnet einen programmierten Zelltod von menschlichen bzw. tierischen Zellen, die den Zell-Matrix-Kontakt verloren haben (Frisch und Francis, 1994))

VFRAME: Computer Vision for OSINT / OSI Research

Adam Harvey (US), Josh Evans (US), Jules LaPlace (US)

Honorary Mention

Director founder computer vision Adam Harvey 3D design and emerging 3D technologies Josh Evans Information architecture and front end development Jules LaP

VFRAME ist ein Computer-Vision-Projekt, das Open-Source-Bildverarbeitungssoftware und neuronale Netzwerkmodelle für die Menschenrechtsforschung und die Überwachung von Konfliktgebieten entwickelt. VFRAME startete 2017 mit dem Ziel, die Lücke zwischen kommerzieller KI und investigativer Forschung zu schließen.

Heute leistet VFRAME Pionierarbeit bei der Entwicklung und Anwendung neuer Techniken, die 3D-Fotogrammetrie, 3D-Rendering und 3D-Druck kombinieren, um synthetische Daten für das Training neuronaler Netze zu generieren. Anstatt, wie in der Industrie üblich, Daten aus Online-Quellen zu scrapen, die problematische Verzerrungen aufweisen können, verwendet VFRAME einen künstlerischen Ansatz, der digitale Fabrikation, Bildhauerei, Fotografie und 3D-Kunst kombiniert, um eine praktisch unbegrenzte Quelle von Trainingsdaten zu schaffen. Das Ergebnis ist ein leistungsfähiges Computer-Vision-Modell, das in der Lage ist, illegale Streumunition in Millionen von Videodaten aus Konfliktgebieten automatisch zu erkennen.

VFRAME hat von Anfang an eine Partnerschaft mit Mnemonic aufgebaut. Ziel ist es, die Technologie auf das umfangreiche Archiv von Mnemonic anzuwenden. In einem Pilotprojekt 2022 wurden in dem Archivmaterial aus Syrien, das mehr als drei Millionen Videos und etwa zehn Milliarden Einzelbilder umfasst, über 1.000 Videos entdeckt, in denen die Streubombe RBK-250 eingesetzt wurde.

Im vergangenen Jahr begann eine neue Zusammenarbeit mit der Nichtregierungsorganisation Tech 4 Tracing. Ziel ist es, direkten Zugang zu echter Munition für 3D-Scans zu erhalten. Dieser wichtige Schritt wird es dem VFRAME-Projekt ermöglichen, seine Entwicklungsbemühungen auszuweiten und weitere Open-Source-Modelle für die Computer Vision Detection zur Überwachung von Konfliktgebieten zu entwickeln.

FORMATA

PЯОТO-ALIEИ PЯOJECT (CO/JP)

FORMATA PЯОТO ALIEИ PЯOJECT COJP Photo Gyre Gallery

Was wäre es heute, in einer Zeit der Ausdehnung des anthropogenen Einflusses über die Erde hinaus, für eine Bedeutung, außerirdische Materialassemblagen aktiv und performativ zu erleben? FORMATA ist eine hybride Installation, die lebende, autonome Blobs in einem experimentellen Reaktor inszeniert, der mit flüssigem Formamid die Bedingungen eines außerirdischen Planeten emuliert. FORMATA dekonstruiert die Hierarchie zwischen Menschen und Nicht-Mensch und ersetzt sie durch eine „unscaled agency“ von lebenden, teilweise lebenden und nicht lebenden Entitäten.

Das PЯОТO-ALIEИ PЯOJECT ist ein multidisziplinäres Labor für Ideen und Experimente an der Schnittstelle von Medienkunst, Chemie und Astrobiologie.

Emils

Yuan Shao Wu (TW), Wei Chen Yen (TW), Chiao Ni Hsu (TW), Kuan Ju Wu (TW/US), Yasuaki Kakehi (JP), Chun Cheng Hsu (TW)

Emils Yuan Shao Wu Wei Chen Yen Chiao Ni Hsu Kuan Ju Wu TW Yasuaki Kakehi JP Chun Cheng Hsu TW Photo Chun Cheng Hsu Lab

Interaktive, lebendige Skulptur aus Schleim. Emils ist eine flüchtige, weiche Skulptur, die aus Millionen zähflüssiger Schleimbläschen besteht, die zusammen eine essenzielle Struktur bilden. Diese Bläschen interagieren miteinander: Sie konkurrieren, verschmelzen und zerplatzen, während sie wachsen, was zu einer dynamischen, sich ständig weiterentwickelnden Form führt. Inspiriert von der Konstruktion mehrzelliger Organismen, verkörpert Emils die mikroskopische und makroskopische Perspektive von Lebensformen.

FOUNDING LAB closing ceremony

The FOUNDING LAB excursion to the JKU, the temporary location of the IDSA, takes place on the last day of the Summer School. The Institute for Digital Sciences Austria will be built nearby. As the first element of the IDSA, a linden tree is planted in honor of the Founding Convent, which includes, among others, Stefanie Lindstaedt, Christopher Lindinger and Claudia von der Linden. Each student contributes to the materialization of the IDSA by putting soil on the newly planted tree. Afterwards, every student receives a certificate of completion for the Summer School and Forum.
 
Photo: Patrick Münnich

Startschuss für neue Universität Linz!

„Linz ist digital führend in Europa“ > „Ich wage zu behaupten, dass Linz einer der Vorreiter in Europa ist, wenn es um digitale Transformation geht“, bringt Ars Electronica Geschäftsführer Gerfried Stocker den Grund für die Kooperation mit der neuen IDSA-University auf den Punkt. “The magic happens when different disciplines bump into each other!” 75 Studierende und 20 Fellows aus verschiedenen Ländern, Kulturen, Forschungsdisziplinen, aus Kunst, Wirtschaft und Zivilgesellschaft machten das FOUNDING LAB zu genau dem, was sich IDSA und Ars Electronica erhofft hatten: ein begeisternder Startschuss für eine neue Universität, die von Anfang an, Dialog, Inklusion und Innovation lebt. Gründungspräsidentin ist Stefanie Lindstaedt.

Nach dem Festival ist vor dem Festival

Die Ars Electronica 2023 ist Geschichte. Das nächste Festival für Kunst, Technologie und Gesellschaft findet dem 4. September 2024, bis dem 8. September 2024, in Linz statt.

Die Ars Electronica war in diesem Jahr ein sehr interessantes Festival, aber oft zu breit gefächert, um sich in einzelne Themen zu vertiefen.