steirischerherbst ’19

Eine Bestandsaufnahme zum Festival steirischerherbst ’19 in Graz.
GRAND HOTEL ABYSS (Grand Hotel Abgrund) – eine treffende Metapher, die der Philosoph Georg Lukács in den 1930er- Jahren prägte, um das Lebensgefühl europäischer Intellektueller und Kulturschaffender angesichts des heraufziehenden Faschismus zu beschreiben. Entlang dieses Bildes nimmt der „steirischerherbst ’19“ die Kombination von Urlaubsgenuss und politischer Krise zum Ausgangspunkt für eine umfassende Betrachtung des Hedonismus (https://neueswort.de/hedonismus/) in unruhigen Zeiten. Der Zeitpunkt hierfür könnte, betrachtet man die jüngsten politischen Ereignisse in Österreich, nicht besser gewählt sein.

Am Tag der Eröffnung (19. September 2019) reiste ich mit einer halbstündigen Verspätung von Salzburg nach Graz an, um doch noch rechtzeitig beim Presserundgang „steirischerherbst ’19“ teilzunehmen. Etwas leicht gestresst, da der Presserundgang bereits im Gange war, ist eine gewisse Spannung zu spüren, was wird dieses Jahr geboten.
Der Titel des Kernprogramms lautet dieses Jahr „GRAND HOTEL ABYSS“ klingt einerseits spannend und andrerseits habe ich wieder keine Ahnung was ich mir wirklich darunter vorstellen soll. Der „steirischerherbst ’19“ sticht mit seinem politischen Konzept hervor.

Dies ist die zweite Ausgabe von Intendantin und Chefkuratorin Ekaterina Degot. Die verschiedenen künstlerischen Beiträge bilden ein dicht gewobenes Erzählen in Form einer Darstellung, kurz auch narrativ genannt, dass sich in einer erweiterten Gesamtausstellung auf rund 30 Orte in Graz und der Steiermark erstreckt. Installationen und Performances, aber auch Diskursformate und Publikumsgespräche bilden einen übergreifenden Parcours durch Zeit und Raum. https://www.steirischerherbst.at/de/
Im Klartext, man muss für sich selbst entscheiden, was man sehen will und was Interessant sein könnte. Ich suchte ein paar Projekte heraus, wo auch bei einem Projekt meines Erachtens Kritik angebracht wäre.

Dieses Projekt was ich kurz vorstelle – ist Skandalträchtig, zwar typisch für den „steirischerherbst ’19“ jedoch fehl am Platz, da es weder politisch noch mit Kunst zu tun hat. Es handelt sich hier um die Videoinstallation von Michael Portnoy in der List Halle.
Mit „Progressive Touch: Series 1“ (2019) will Michael Portnoy mit seiner neuen Mehrkanal-Videoarbeit dazu beitragen, dass Sex „besser“ wird. Dafür erforscht und erweitert er die Beziehungen zwischen menschlicher Sexualität, Choreografie und Musikkomposition und sagt der offenkundigen rhythmischen Eintönigkeit menschlicher Bewegungen und Gesten den Kampf an. Zu sehen in dieser Videoinstallation sind Homosexuelle und Lesben, dargestellt von einer Gruppe Performer*innen, die neue Sexpraktiken in einer abstoßenden Art für sich anwenden. Seine Idee ist, dass das Ergebnis Vereinigungen sind, die als opernhafte Prog-Rock-Kompositionen ebenso gut funktionieren wie als Übung, die man auch zu Haus ausprobieren kann. Was jetzt? Anleitung für besseren Sex? Anleitung für Homosexuelle und Lesben? Wo ist hier die Kunst? Oder betrifft es bereits den Abgrund, in dem sich die Menschheit bewegt? Oder sollte es mit ironischem Optimismus in den Abgrund führen? Wer sich dieses Video ansehen will: Helmut List Halle, Wagner Biro-Strasse 98a, 8020 Graz, Eintritt frei ab 18 Jahren.
Michel Portnoy (*1971, Wahsington, D.C.) kommt aus den Bereichen Tanz und Stand-up-Comedy. Er verbiegt und verdreht Sprache und Verhalten und erzielt damit oft einen brutal komischen Effekt. Er lebt in New York.
Die Installation „Rn“ im Forum Stadtpark ist deshalb interessant, weil sich das Künstler Duo Daniel Mann und Eitan Efrat mit dem Thema Wellness auseinandersetzt und in diesem Falle auch einer geheimen Geschichte der NS-Zeit über den therapeutischen Einsatz von radioaktivem Gas nachgehen und eine grausige Vorgeschichte zum Vorschein bringen.

Erzählt wird in dieser Videoinstallation von einem Heilstollen in der Nähe des österreichischen Kurortes Bad Gastein. Die Nazis ließen 1942 von Zwangsarbeitern einen Stollen graben, weil es um Gerüchte über Goldvorkommen geht. Statt Gold fand man Temperaturen von über 40 Grad sowie hochkonzentriertes Radon vor. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde dieser Stollen in eine Heilstätte umgewidmet, die bis heute in Betrieb ist, obwohl eine medizinische Wirkung der Behandlung niemals nachgewiesen werden konnte.
Daniel Mann (*1983 Tel Aviv) ist ein Filmemacher und Wissenschaftler, dessen Arbeiten die Zirkulation von Bildern im Kontext von Kolonialismus und bewaffneten Konflikten untersuchen. Er lebt in London.
Eitan Efrat (*1983 Tel Aviv) ist ein Künstler, der in den Bereichen Video, Film, Installation und Malerei arbeitet. Eitan Efrat lebt in Brüssel.

Im Grazer Künstlerhaus präsentiert der Londoner Künstler Jeremy Deller „Putin’s Happy“ (2019) sein Video, wo es um absurden Fremdenhass, irre Sehnsucht nach Abschottung geht. In seiner neuen Videoarbeit verschafft uns Jeremy Deller Einblick in die Verbreitung von Rechtspopulismus und möglicherweise auch Faschismus in Großbritannien. Fehlgeleiteter Patriotismus der auch zum Ergebnis des Brexit-Referendums beigetragen hat.
Jeremy Deller (*1966 London) ist ein Künstler, der die Grenzen der Kunst überschreitet, indem er mit und in größeren gesellschaftlichen Kontexten – insbesondere der Populärkultur – arbeitet.
Zum Kernprogramm „Grand Hotel Abyss“ wird der „steirischerherbst ’19“ noch von einem umfangreichen vielfältigen Parallelprogramm lokaler Kulturinstitutionen begleitet.
(https://www.steirischerherbst.at/de/program/2/grand-hotel-abyss#veranstaltungsorte)
Skandalträchtiges wie sich der „steirischerherbst ’“ im 20. Jahrhundert immer wieder gerne präsentierte, ist in den letzten Jahren eher verebbt und die politischen und künstlerischen Bewegungen, die an der Idee des Fortschritts hatten und sich durch besondere Radikalität gegenüber bestehenden politischen Verhältnissen oder ästhetischen Normen auszeichneten, finden bis dato nicht mehr statt. Der „steirischerherbst “ versucht sich zwar immer wieder neu zu erfinden und sich neu definieren, aber das Non plus Ultra ist noch nicht eingetroffen. Vielleicht findet er zu seinen ersten Wurzeln zurück und ist wieder der große Vorreiter der zeitgenössischen Kunst, der Avantgarde.

Nachträglich noch ein kurzer Auszug aus der Eröffnungsrede der Intendantin und Chefkuratorin Ekaterina Degot für ein besseres Verständnis für den diesjährigen „steirischerherbst ’19“:
„Wir tragen den „Abyss“, den Abgrund, in unserem
Namen. Er ist unsere Marke und unser Logo. In riesigen Neonlettern thront er
auf unserem Dach. Wir führen ihn in unserer Anschrift, und er erwartet Sie
überall außerhalb unserer Mauern. Wir wissen in Wirklichkeit nicht, was sich
ganz unten in diesem Abgrund befindet, und wir können Ihnen nur davon abraten,
es auf eigene Faust herauszufinden. Allerdings laden wir Sie nachdrücklich ein
zu einer Übung im joie de vivre, zu einem ausgedehnten Wohlfühlerlebnis mit
exquisiten ästhetischen, kulinarischen und kurtouristischen Genüssen, obendrein
noch garniert und gesteigert durch den frisson der dunklen, schaudernden
Ahnung, dass sich vielleicht da draußen, zur gleichen Zeit, gerade jetzt, eine
Katastrophe zusammenbrauen könnte.
Der Abgrund draußen an der Schwelle zu unserem Hotel bringt es leider mit sich,
dass dieses jeden Augenblick einstürzen oder sich als bloße Schimäre erweisen
könnte – wie kürzlich erst unser Villen-Ableger auf Ibiza, von dem Sie
vielleicht aus den Nachrichten erfahren haben: Der stellte sich mitsamt dem
Thunfischtatar und dem Champagner und der wunderschönen Millionenerbin, die wir
dort ebenfalls aufgeboten haben, bei Lichte und bei Tage leider als ein
einziger großer Schmäh heraus. Aber hatten die zahlenden Gäste nicht trotzdem
eine Riesengaudi? Und war nicht einfach auch alles zu schön, um wahr zu sein?
Genießen Sie unbedingt jeden Tag, als wäre es Ihr letzter! Ungefähr so könnte
sich der Direktor eines imaginären Grand Hotel Abgrund an Sie wenden. Als Direktorin
des steirischenherbst kann ich mich seinen Worten nur anschließen.“
steirischerherbst’19 läuft noch bis zum 13. Oktober 2019 in Graz
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